Seine Kindheit und Jugend bis zum 17. Lebensjahr verbrachte der Opektafarmer an 17 verschiedenen Orten, darunter waren auch mehrere Kinderheime. In diesen wurden die Kinder sehr unterschiedlich behandelt. Hier ein Auszug aus dem Buch "Der Opektafarmer" in dem er von seinen Erfahrungen in einem dieser Kinderheime berichtet:

 

Schweizerhaus

 

Ich kam nun in ein Heim, das sich als Schülerheim besonders um die schulischen Erfolge der Kinder bemühte. Das Schweizerhaus war ein ehemaliges Hotel im Kurort Bad Soden bei Salmünster. Es lag am Hang des Berges, auf dem die Ruine des Turms der Burg Stolzenberg zu finden ist. In ihm lebte ich mit rund 70 anderen Kindern. Betreut wurden wir von Erziehern und Lehrern, die unsere Hausaufgaben überwachten. Ich besuchte die Realschule in Salmünster und nun ging es schulisch wieder bergauf. In meinem ersten Zeugnis, das ich in Salmünster bekam, war vermerkt, dass meine Leistungen besser seien als die Noten es darstellen, aber wegen eines Erlasses des Kultusministers ein Überspringen von Noten nicht möglich ist.

Den anderen Kindern erzählte ich, woher ich kam. Zu meiner Geschichte gehörte das Gut im heutigen Polen, dass der Familie meiner Mutter früher gehört hatte. Und ich erzählte von meinem Vater Walter, der gestorben war und dessen Familie in Südwestafrika lebte. Nach den Erzählungen meiner Mutter ging ich ja davon aus, dass Walter mein Vater ist und dessen Eltern meine Großeltern sind. Als ich beschrieb, wie groß die Farm in Keetmanshoop ist, glaubte mir endgültig kein Kind mehr. Schließlich wussten ja alle, dass ich der Sohn einer allein stehenden Krankenschwester war. Ein Junge fragte mich, was denn auf dieser Farm angebaut werde, woraufhin ein anderer rief: "Opekta". Schallendes Gelächter, und von da ab wurde ich im Heim und in der Schule "Der Opektafarmer" genannt. Der Heimleiter sprach mit meiner Mutter über meine Familiengeschichte und gab mir den Rat, besser nicht mehr darüber zu reden.

Das Heim gehörte einer Frau, die Respekt einflößte. Der Speisesaal war geteilt in einen oberen und einen unteren Bereich. Am Übergang dazwischen gab es Stufen, die von zwei Säulen begrenzt wurden. Von den Säulen aus hatte man den gesamten Saal im Blick. Wenn sie uns Kindern etwas mitzuteilen hatte, stand Frau Bösehans (sie hieß wirklich so!) mit dem Rücken an einer dieser Säulen und wir hörten aufmerksam zu. Das Taschengeld zahlte sie jeden Samstag nach dem Abendessen aus. Alle Kinder waren im Speisesaal, Frau Bösehans saß an zwei Tischen in der Mitte. Wenn ich aufgerufen wurde, ging ich zu dem Tisch, hinter dem sie saß. Vor ihr stand eine Kasse, daneben lag das Kassenbuch. Sie trug den Betrag in das Buch ein und zählte die 70 Pfennige, die ich damals wöchentlich bekam, auf den Tisch. Dann rutschte sie auf den Stuhl am Tisch daneben. Dort waren Süßigkeiten aufgebaut, die ich nun von ihr kaufen konnte. War ich fertig, setzte sie sich wieder hinter die Kasse und der nächste Junge wurde aufgerufen. Mein Gruppenerzieher war auch der Heimleiter. Er kümmerte sich intensiv um uns. Besonders Sauberkeit war ihm wichtig. Wenn wir von draußen kamen, wechselten wir im Schuhkeller die Schuhe, die jeden Abend nach dem Essen geputzt wurden. Erst wenn ältere Schüler sie kontrolliert und für sauber befunden hatten, durften wir auf unsere Zimmer gehen. Jeden Abend wuschen wir uns am Waschbecken in unserem Zimmer nacheinander von Kopf bis Fuß. Bevor wir dann den Schlafanzug überzogen, kontrollierte Herr Tonndorf die Sauberkeit bei jedem genauestens. Hände von innen und außen, Hals, Ohren, Körper und Füße, alles wurde genauestens angesehen. Dabei fiel ihm auf, dass mit meinem Penis etwas nicht in Ordnung war. Das behandelte er dann auch selbst. In dem kleinen Medizinzimmer, in dem Hygieneartikel und Medikamente aufbewahrt wurden, strich er meine Eichel abends, bevor ich ins Bett ging, mit Vaseline ein. Dabei erklärte er mir, dass ich eine Eichel und eine Vorhaut habe und dass diese gepflegt werden müssen. Um mich kümmerte sich Herr Tonndorf besonders intensiv. Insbesondere brachte er mich dazu, Vokabeln zu lernen. Er wohnte in einem Zimmer auf dem gleichen Flur, auf dem wir Kinder lebten. Rechts neben der Tür stand in dem Zimmer sein Kleiderschrank, daneben sein Bett. Gegenüber ein Schreibtisch, davor ein Stuhl. Ich setzte mich auf diesen Stuhl, er zeigte mir im Englischbuch, welche Vokabeln ich zu lernen hatte. Dann ließ er mich für eine im voraus bestimmte Zeit allein und ich lernte. Wenn die vorgegebene Zeit vorbei war, kam er zurück. Ich musste die Hosen herunterziehen und mich vor sein Bett stellen. Dann hielt ich mich mit den Händen an dem Bettrahmen fest und mein Oberkörper und meine Beine bildeten nun einen rechten Winkel. Er griff oben auf den Kleiderschrank, dort lag der Stock. Nun fragte er mich ab: "Gehen". Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder ich antwortete fehlerfrei: "To go, went, gone" oder der Stock kam. Auf diese Weise lernte ich die englischen Vokabeln des fünften und sechsten Schuljahres.

Meine erste Zigarette wurde auf die gleiche Weise geahndet. Einige Jungen hatten auf einem benachbarten Grundstück in Ställen Hasen, die sie regelmäßig versorgten. Eines Abends nahmen sie mich mit und als die anderen sich Zigarettenstummel anzündeten, durfte ich auch mal an einem ziehen. Genau in diesem Moment kamen die großen Jungen, die auch auf uns aufpassten. Natürlich verpetzten sie uns und der Heimleiter bestellte mich, als ich zum Abendessen ging, zur Bestrafung. "Nach dem Abendessen kommst du auf mein Zimmer, es gibt fünf". Nach dem Abendbrot erhielt ich meine Strafe. Hosen runter, rechter Winkel, festhalten, Stock. Der erste Hieb kam. "Warum hast du die bekommen?". "Weil ich geraucht habe". Der nächste Hieb, die gleiche Frage, die gleiche Antwort. Bis ich fünf Hiebe bekommen und fünf mal laut und deutlich bestätigt hatte, warum ich diese Strafe verdient hatte.

Meine Mutter wusste von den Strafen und hatte die Striemen auf dem Hintern und den Oberschenkeln gesehen. Aber sie nahm dies hin, weil die aufsteigenden schulischen Leistungen dies in ihren Augen rechtfertigten. Außerdem war ich der erklärte Liebling des Heimleiters. Er bezeichnete mich gerne als seinen Sohn. Ein Mädchen, das sogar jünger war als ich, nannte er seine Frau. Das fand ich lustig, weil folglich ja meine Mutter jünger war als ich. Wenn er an seinen freien Tagen seine Mutter in Berlin besucht und Baumkuchen mitgebracht hatte, bekam ich immer ein Stück von dieser Köstlichkeit ab.

Frau Bösehans hatte eine andere Art, die Kinder zu bestrafen. Die Sünder mussten sich an eine Säule in der Mitte des Speisesaales stellen und sie drehte den Ring mit dem riesigen Stein an ihrer Hand so, dass der Stein zur Handfläche zeigte. Dann erklärte sie, warum die Strafe vollzogen wurde und schlug mit dem Handrücken ins Gesicht. Bei leichten Vergehen ein mal, bei schweren entsprechend öfter. Niemals vergessen habe ich die Bestrafung von drei Mitschülern. Der erste wurde an die Säule gerufen, der Ring wurde gedreht und ohne die sonst übliche Erklärung schlug sie zu. Ab dem dritten Schlag zählten siebzig Kinderstimmen laut mit, bis zum zehnten. "Weißt Du, warum du die bekommen hast?" fragte die Frau. "Ja", antwortete der Junge und durfte sich wieder setzen. Der zweite Junge wurde gerufen, siebzig Kinderstimmen zählten laut von eins bis zehn. Die gleiche Frage, die gleiche Antwort, auch er durfte sich setzen. Nun musste ein Mädchen an die Säule kommen. Diesmal zählten siebzig Kinderstimmen laut von eins bis zwanzig. "Weißt Du, warum du die bekommen hast?" Mit klarer und bestimmter Stimme kam eine für uns alle unfassbare Antwort: "Nein, ich weiß nicht, warum ich die bekommen habe". Nicht das Mädchen, sondern Frau Bösehans verlor nun die Fassung. Das Mädchen musste mit ihr zusammen den Speisesaal verlassen, während die Frau laut ankündigte, nun ihre Eltern anzurufen und sich über deren renitente Tochter zu beschweren. Nach dem Essen erfuhren wir, was vorgefallen war. Frau Bösehans war mit dem Auto am Heim vorgefahren. Vor dem Eingang alberten die drei herum, dabei griffen die Jungen dem Mädchen an den Pullover. Diese Handlung wurde geahndet. Das Mädchen hatte die doppelte Strafe bekommen, weil sie sich nicht intensiv genug gegen die Jungen gewehrt hatte.

Nicht alle Kinder wurden so intensiv bestraft oder zum Lernen angehalten. Einen Zimmerkameraden von mir traf der Stock des Heimleiters aber immer wieder. Dieser ging in Gelnhausen auf das Gymnasium. Es war Sommer und er trug eine kurze Hose. So sah sein Lehrer die blutigen, aufgeplatzten Striemen auf den Oberschenkeln und ließ sich erklären, wie sie entstanden waren. Gegenüber der Schule war das Gesundheitsamt, dort stellte der Lehrer in der nächsten großen Pause meinen Kameraden dem Amtsarzt vor. Dieser Arzt zeigte den Heimleiter bei der Polizei an. In den Tagen darauf vernahmen mehrere Polizisten sämtliche Kinder und Bediensteten ausgiebig.

Nach meiner Befragung lief ich mit einem Kameraden zusammen aus dem Heim fort. Ich kam mit der Situation nicht zurecht, dass ich, der erklärte Liebling des Herrn Tonndorf, diesen bei der Polizei belastet hatte. Wir wollten per Anhalter nach Hause, zu unseren Eltern. Nach einigen Kilometern, die wir schon zu Fuß zurückgelegt hatten, hielt ein Auto an. Am Steuer saß ausgerechnet der Polizist, der mich zuvor befragt hatte. Der brachte uns auf das nächste Polizeirevier, wo wir von Frau Bösehans und ihrem Fahrer abgeholt wurden. Zurück im Heim wurde ich von ihr sofort in einem Dachzimmer eingeschlossen, ich durfte mit niemandem mehr reden. Meine Mutter kam einige Stunden später, um mich abzuholen. Ich war aus dem Heim geflogen, weil ich über meine Erlebnisse im Schweizerhaus bei der Polizei gesprochen hatte. Deshalb war meine Mutter telefonisch herbei zitiert worden um mich abzuholen.

Muttsch war inzwischen nach Sandbach umgezogen. Dort zeigte mir jemand, welche Wellen die Vorgänge im Schweizerhaus aufwarfen. Die Bildzeitung hatte auf der Titelseite einen Bericht gedruckt mit der fetten Schlagzeile: "Prügelorgien im Schweizerhaus."

Monate später gab es eine Verhandlung vor dem Landgericht in Hanau. Frau Bösehans und Herr Tonndorf erhielten Gefängnisstrafen.

 

 

 

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